Kurz vor den Herbstferien fragte mich meine Tochter: «Päpu, machen wir wieder mal eine Wanderung mit Übernachtung in den Bergen?» Verwundert fragte ich nach, was sie damit meinte. «Ich möchte mit dem Zelt in den Bergen von Ort zu Ort wandern und zweimal übernachten.»
Ich staunte und ziemlich sicher erschien auf meiner Stirne ein Fragezeichen. Damit du mein Fragezeichen verstehst, erkläre ich. Nicht erst beim letzten Mal habe ich die Erfahrung gemacht, dass die letzten 100 Höhenmeter einer Wanderung bzw. bis zur Hütte ein einziger lautstarker K(r)ampf sind. Wenn ein großer Berg vor meiner Tochter liegt – das kann auch ein Hausaufgabenberg sein – versucht sie, ihn zu umgehen. Sie ist glücklich, wenn sie viel Zeit für sich hat und diese gemütlich und ohne Druck gestalten kann. Und jetzt will sie eine dreitägige Bergwanderung machen. Trotz der negativen Erfahrungen im Hinterkopf habe ich die Wanderung mit Freude geplant. Sie wurde ein Erfolg.
Später wollte ich von ihr wissen, was sie zu solchen Wanderungen und Abenteuern motiviert. Gemeinsam schauten wir uns Fotos an, schwelgten in Erinnerungen und suchten nach Gründen. Aber sie konnte mir nicht genau sagen, warum sie das noch einmal erleben wollte. «Es ist einfach cool.» Doch ein Moment taucht in ihren Erzählungen immer wieder auf: Ein Sonnenuntergang mit einer schlecht gelaunten Sonne. Nachdem wir im Nebel zu unserem Übernachtungsplatz gewandert waren, klarte es genau im richtigen Moment auf und eine dunkelrote Sonne zeigte sich über dem Horizont.
War es dieses eine Erlebnis? Oder ist es jeweils das Gesamtpaket aus positiven und negativen Erlebnissen, das passt und zufrieden macht? Und wie muss das Verhältnis zwischen positiven und negativen Erlebnissen sein, damit das Gesamterlebnis als gut empfunden wird? Je nach Quelle findet man unterschiedliche Zahlen; vom amerikanischen Psychologieprofessor stammt die Formel 5:1: Es braucht fünf positive Erfahrungen, um ein negatives auszugleichen.
Wie viele positive Erfahrungen hat meine Tochter gemacht, dass ihr Gehirn eine Wanderung trotz der letzten emotionalen 100 Höhenmeter oder der nasskalten Schuhe (Schneefeld) positiv abspeichert? Wie viele unerwartete, kleine und große Abenteuer hat sie erlebt? Wahrscheinlich so viele, dass es ihr deshalb schwer fiel, zu sagen, was gut war.
Gut ist gut, das genügt mir. Es ist der Grund, warum meine Tochter immer wieder nach Abenteuern mit mir sucht. Auch ich erlebe immer wieder atemberaubende Momente in der Natur und auch mir fehlen oft die Worte, um auszudrücken, was genau gut ist. Da geht es mir wie meiner Tochter.
Warum ein Erlebnis gut ist, kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Es kann der Überschuss an positiven Erfahrungen sein. Es kann aber auch sein, dass ursprünglich negative Erlebnisse – wie die letzten 100 Höhenmeter – nicht negativ, sondern positiv abgespeichert werden. Weil sie zum Abenteuer-Gesamtpaket gehören. Wie dem auch sei: Wenn ich mich auf Abenteuer mit meiner Tochter einlasse, muss ich mich entsprechend vorbereiten und – ganz wichtig – genügend Energie und Kraftreserven für mögliche (negative) Überraschungen mitbringen. Auch bei guter Planung weiß ich nicht genau, wie etwas sein wird.
Bin ich gewappnet, emotionale Entgleisungen und hohe Wellen wie ein Fels in der Brandung aufzufangen? Bin ich der Ort, an dem Frust, Wut und Ärger abgeladen werden können? Denn dafür ist Familie da.
Ein Lifehack zum Schluss: Gegen nasse Socken und Schuhe hilft Einfühlungsvermögen nur bedingt. Zwei Plastiktüten und ein frisches Paar Socken helfen deutlich besser. Zuerst die Socken, dann die Plastiktüten und zum Schluss die Schuhe anziehen.
Bist du gewappnet, im Abenteuer Familie emotionale Entgleisungen aufzufangen?
Bist du für deine Kinder der Ort, an dem Frust, Wut und Ärger abgeladen werden können?
Was brauchst du ganz persönlich, damit du gewappnet bist und dies sein kannst?