FAMILYLIFE
Engagieren

Am Sonntag fuhr unsere Jüngste mit ihrer Klasse ins Skilager. Wir begleiteten sie zum Treffpunkt am Bahnhof. Zwei Tage vorher hatte sie ihren Koffer gepackt. Nicht ohne sich zu beschweren, aber was soll ein Kind machen, wenn die Lehrerin das Packen als Hausaufgabe aufgibt? Ich fand’s super! Auf der Packliste hatte sie alles abgehakt, sogar die Hausschuhe waren dabei. 

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, heißt es in einer Lenin zugeschriebenen Redewendung. Nun, in diesem Fall konnte ich es mir nicht verkneifen, einen Kontrollblick auf die Liste und das Gepäck zu werfen – und vergessene Dinge zu ergänzen. Hier hat es sich gelohnt, aber ansonsten ist das obige Motto für das Familienleben ziemlich ungeeignet. 

Hast du gerne alles unter Kontrolle? Diese Frage kann ich leider nicht guten Gewissens verneinen. Ich kontrolliere hin und wieder, was frau so kontrollieren kann: Meinen Kaffeekonsum (sinnvoll), ob meine Pflanzen Wasser benötigen (überlebenswichtig) und auch, ob meine Kinder sich wunschgemäß verhalten (manchmal nicht hilfreich, unter Umständen sogar schädlich). 

Mein Verhalten ist ab und zu kontrollierend. Und nicht nur meines. Damit bin ich zum Glück nicht alleine. Tatsächlich ist jeder und jede in einem gewissen Mass kontrollierend. Im Ursprung ist es unser Selbsterhaltungstrieb, der dazu führt, dass wir Dinge und Menschen um uns herum kontrollieren. Das Wissen, ob etwas unseren Vorstellungen entspricht, gibt uns Sicherheit. Und die Möglichkeit, zu handeln, wenn die Situation nicht unseren Wünschen entspricht. Das ist der Punkt, an dem es heikel wird. Denn wenn sich unsere Kontrolle sich in Druckverhalten äußert, wird die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig gestört.

Ann Wilson* erzählt: “Ich war im letzten Schuljahr und beschloss, nach sechs Jahren mit dem Leichtathletiktraining aufzuhören. Ich sagte es meinem Vater, der mir kurz zuvor Laufschuhe gekauft hatte. Er sagte: “Du gehst zum Training.” Ich antwortete: “Nein, ich will nicht, ich habe so viel zu tun.” Er sagte: “Du gehst.” Ich fragte: “Was machst du, wenn ich nicht gehe?” Er: “Ich spreche nicht mehr mit dir, wenn du nicht zum Training gehst.” Sieben Tage schwieg er. Sieben lange Tage, an denen er nicht mit mir sprach, mich nicht anschaute. Am Ende sagte ich: “Was tust du da?” Er schwieg weiter. Ich gab auf und ging zum Training. Er hatte gewonnen.”

Denn sein Verhalten soll das Kind in keiner Situation die Beziehung zu mir kosten.

Mit seinem Schweigen missbraucht der Vater die Liebe seiner Tochter zu ihm, um sie dazu zu bewegen, etwas zu tun, was sie nicht tun will. Schädliches Kontrollverhalten ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Schweigen ist eine versteckte Form der Kontrolle.  Andere Beispiele sind manipulatives Verhalten, ständiges Anzweifeln, dauerndes Kritisieren und Schmollen. Kontrollierendes Verhalten führt selten zum Ziel. Doch wie kann man es besser machen? Eine Möglichkeit ist, statt Druck, Kritik oder Liebesentzug einzusetzen, das Kind zu fragen und zu sagen: “Hilf mir, es zu verstehen.“ Denn sein Verhalten soll das Kind in keiner Situation die Beziehung zu mir kosten. 

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der eine meiner Töchter über längere Zeit morgens nur widerstrebend und oft mit Tränen in den Augen zur Schule ging. Ich denke an ein Telefonat mit der Klavierlehrerin einer meiner Töchter, die sich bei mir über mein unmotiviertes Kind beklagte und sich nebenbei erkundigte, ob ihr Arztbesuch gut verlaufen sei. Dumm nur, dass ich davon nichts wusste und es diesen Arztbesuch gar nicht gab. Ich erinnere mich auch, wie ich mit knapp zwölf Jahren aus purer Verzweiflung aus der Klavierstunde weglief.

In keiner Situation hätten Druck  und Kontrolle die Sache zum Guten gewendet. Ebenso wenig hätte es geholfen, die Vorfälle zu ignorieren. Was dem Kind und mir half, war, ruhig und nicht konfrontativ nachzufragen: “Erzähl mir, was du denkst: Was macht es für dich schwierig, in die Schule zu gehen? Was hat dich dazu gebracht, die Klavierstunde zu schwänzen? Warum willst du da nicht mehr hingehen? Warum bist du aus dem Unterricht weggelaufen? Was würde dir helfen?” 

Die Entscheidung, mit dem Kind in Beziehung zu bleiben und eine Lösung zu suchen, ist auch eine Entscheidung für eine klare elterliche Führung.

Fragen stellen, zuhören, Empathie ausdrücken und dann gemeinsam und offen für verschiedene Lösungen den nächsten Schritt festlegen – vielleicht gefällt dir diese Vorgehensweise. Vielleicht bist du dir aber auch nicht sicher, ob das funktioniert. Was wäre, wenn ein Kind längere Zeit nicht zur Schule geht oder oft schwänzt oder…? Genau diese Frage musste sich eine Bekannte kürzlich stellen. Sollte sie sich das Kind unter den Arm klemmen und erst im Klassenzimmer wieder loslassen? Oder auf andere Weise Druck ausüben und die Beziehung zum Kind aufs Spiel setzen? Sie entschied sich, zuallererst in Beziehung zu bleiben und auf dieser Basis das Ziel zu erreichen, dass das Kind wieder die Schule besucht (was wieder der Fall ist). Mein Learning war: In Beziehung bleiben ist nicht zu verwechseln mit der Aufgabe der elterlichen Führung. Die Entscheidung, mit dem Kind in Beziehung zu bleiben und eine Lösung zu suchen, ist auch eine Entscheidung für eine klare elterliche Führung. Als Eltern haben wir die Wahl, ob wir unseren Willen kontrollierend durchzusetzen oder ob wir gemeinsam mit dem Kind das Ziel zu erreichen versuchen.

PS: Als ich kürzlich meine Eltern besuchte, setzte sich unterwegs im Postauto eine Frau neben mich, die sich bei näherem Hinschauen als meine ehemalige Klavierlehrerin entpuppte. Wir tauschten Erinnerungen und Aktualitäten aus. Irgendwann meinte sie zu mir: “Du gehörtest zu meinen ersten Schülerinnen. Ich war damals so jung und so streng. Bitte entschuldige, wenn ich damals zu hart mit dir umgegangen bin.”

Hast du gerne alles unter Kontrolle? Was kontrollierst du?
In welchen Situationen entdeckst du bei dir Verhaltensweisen, das eine versteckte Form von Kontrolle ist?
Wie kannst du stattdessen mit deinem Kind in Beziehung treten?

*Ann Wilson, Familylife Today, 22. Februar 2023

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