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Kürzlich stieß ich in einem Artikel über neurobiologische Forschung auf den Begriff “Synchronisation”. Sofort ploppte in meinem Kopf das Wort “Synchronschwimmen” auf – diese von vielen (zu Unrecht) belächelte Sportart mit Nasenklammern und Gelatine-Dutts. Denn was das Gehirn in Bezug auf Synchronisation leistet – beim Synchronschwimmen oder eben auch in alltäglichen Situationen, ist einfach fantastisch. 

Nehmen wir einen ganz normalen Mittwochmorgen… Um 7.58 Uhr steht meine Enkelin (5) im Flur und wickelt sich bunte Papierschlangen um die Finger. Um 8.10 Uhr müssen wir Richtung Kindergarten loslaufen. Aber alles, was läuft, ist die Zeit. Von meiner inneren Liste “Aufstehen, Anziehen, Frühstück, Zähneputzen, Kämmen, Jacke, Schuhe, Kindsgibändel” sind erst zwei Punkte abgehakt. Ich ermahne angespannt-freundlich zum Vorwärtsmachen, treibe an, locke, übernehme, überzeuge… und schaffe es, nassgeschwitzt, aber gerade noch rechtzeitig um 8.30 Uhr mit der Papierschlangenfrau beim Kindergarten anzukommen. Das war knapp! Aus neurobiologischer Sicht haben wir mäßig synchronisiert. 

… und den Samstagmorgen drei Tage später: Meine Enkelin hat Schmerzen und wir haben einen Arzttermin gekriegt. Dieses Mal läuft alles wie am Schnürchen: Anziehen, Frühstück, Zähneputzen, Kämmen, Jacke, Schuhe, Kuscheltier. Während der ganzen Untersuchung (bei einem Kinderarzt, der ihr fremd ist!) ist sie so kooperativ, dass ich sprachlos bin. Was ist anders als am Mittwochmorgen?!? Am gelben Luftballon, den sie sich nachher aussuchen darf, kann es nicht liegen… 

An beiden Tagen ging es um das gleiche Thema: Wir mussten pünktlich an einem Ort sein, wobei der Ort selbst nicht der entscheidende Faktor sein konnte (Kindergarten schlägt Kinderarzt 5:0). Sicherlich haben Tagesform, Stimmung, Müdigkeit u.ä. einen Einfluss darauf, wie gut sich ein Kind den (groß)elterlichen Zielen anpassen kann und will. Aber beim Lesen des Artikels hat es bei mir “Klick” gemacht: Entscheidend ist das Phänomen der Synchronisation zwischen zwei Menschen, die sich lieben.

Vom ersten Lebenstag an versuchen ein Neugeborenes und seine Eltern, ihre Gehirnaktivitäten zu synchronisieren. Auf der neurobiologischen Ebene bemühen sich Mutter/Vater und Baby, Informationen voneinander wahrzunehmen, zu interpretieren, einzuordnen, wiederkehrende Muster zu entdecken und adäquat zu reagieren. Damit streben sie an, in einen Gleichklang zu kommen, der allen Beteiligten Freude und Ruhe bringt. Dabei ist in den ersten Monaten vor allem das Engagement der Erwachsenen gefragt, die durch aktive Zuwendung unangenehme Empfindungen des Babys lindern oder beenden können. Das Kind ist aber nicht nur passiver Empfänger; es “antwortet” mit seinen Reaktionen, macht Lernerfahrungen und stellt in seinem Gehirn so viele Verknüpfungen her, wie es das später in so kurzer Zeit nie wieder tun wird. Miteinander vertraute Personen entwickeln auf diese Weise eine sogenannte neuronale Synchronisation – sie können, oft unbewusst, den Code des anderen entschlüsseln: Was brauchen wir beide, um gemeinsam in einen Zustand von Freude und Ruhe kommen? 

Miteinander vertraute Personen entwickeln auf diese Weise eine sogenannte neuronale Synchronisation – sie können, oft unbewusst, den Code des anderen entschlüsseln: Was brauchen wir beide, um gemeinsam in einen Zustand von Freude und Ruhe kommen?

Diese Fähigkeit, das Gehirn mit einer vertrauten Person zu synchronisieren, wird in den ersten 18-24 Monaten entwickelt und später erweitert. Menschen stimmen ihr Verhalten, ihre Emotionen oder ihre physiologischen Rhythmen aufeinander ab. Papas starke Hand auf der Schulter ist ermutigend – die verunsicherten Gedanken des Kindes synchronisieren sich mit seinen zuversichtlichen Gedanken und aktivieren sein Selbstvertrauen. Das wild klopfende Herzchen des Babys synchronisiert sich an Mamas Brust mit ihrem beruhigenden Herzschlag. Synchronisation fördert auch das interaktive Verhalten und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl – darum wirkt z.B. ein herzhaftes Lachen ebenso ansteckend wie Gähnen und ein gemeinsamer Klatschrhythmus im Theater.

Am Samstag hat die Synchronisation zwischen meiner Enkelin und mir gut funktioniert. Ich glaube, sie spürte mein Mitgefühl und meinen tiefen Wunsch, zu helfen. Auch ihre Eltern hatten sie mit Ruhe und Zuversicht auf die Untersuchung vorbereitet. Ich hatte für alles genügend Zeit eingeplant. Sie ihrerseits hat vielleicht meine Anspannung wahrgenommen: Werde ich die Praxis finden? Finde ich einen Parkplatz? Wie wird sie auf einen fremden Arzt reagieren? Ich wollte ihr helfen, und sie wollte mir helfen. Durch ihr unkompliziertes Mitmachen hat sie sich emotional mit mir synchronisiert. Es ging um uns beide – nicht um Pünktlichkeit. Was für eine unerwartet schöne Erfahrung: Beim Arztbesuch die Synchronisation der Liebe zu erleben.

Wo erlebe ich im Alltag mit meinem Kind Synchronisation?
Haben mein Kind und ich regelmässige Zeiten gemeinsamer Ruhe und Freude?
Was könnte ich vielleicht dazu beitragen?

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