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Du blöde Kuh! Oder warum unsere Kinder gut sind, auch wenn sie sich schlecht benehmen

Tim plagt Laura und sticht sie mit dem Kopfhörerkabel in den Hals. Laura beklagt sich weinend. Mami: “Tim, hör bitte auf, du machst ihr weh.” Tim faucht wütend mit tiefer Stimme: “Aber Gott ist bei ihr!” Das ist Kinderlogik. Man verkneift sich ein Lächeln, rettet die Schwester und wartet auf einen geeigneten Moment, um dem Bruder noch einmal zu erklären, wie das nun genau ist mit Gott und dem Piesacken von Geschwistern.

Anders reagieren wir im folgenden Vorfall: Nach der Herbstwanderung der Schule und dem gemütlichen Bräteln mit Eltern, Lehrerschaft und Kindern sucht eine Mutter ihren Sohn im Gewimmel und fordert ihn auf, mit ihr nach Hause zu gehen. Der Kleine, ein Zweitklässler, will nicht. Die Mutter insistiert freundlich. Der Kleine wird wütend, sein Körper versteift sich, er schnappt nach Luft und stößt hervor: “Nein und du bist so eine blöde Kuh!” Die Mutter – und ich mit ihr – zuckt zusammen. Die Umstehenden sind froh, dass das nicht ihr Kind ist und wenden sich dezent ab. Was für ein schlechtes Benehmen. Oder etwa nicht?

Die meisten von uns haben eine genaue Vorstellung davon, was gutes und was schlechtes Benehmen ist. Wir können aus dem Stegreif gute und weniger gute Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen bei Kindern aufzählen. Aber diese Zuordnungen entstehen häufig aus Unwissen und Unverständnis über die kindliche Hirnentwicklung. Wie verarbeitet ein Kind Informationen? Wie lernt es? Wie drückt ein Kind seine Emotionen aus?*

Es gibt Kinder, die reagieren in der Tendenz sensibler und sind empfänglicher für unsere Wünsche. Das finden wir Eltern natürlich gut. Tim hingegen kann Informationen noch nicht miteinander verbinden. Und der Kleine im zweiten Beispiel wird von seinen Emotionen überwältigt und kann diese in der Situation nicht angemessen ausdrücken – für unser Empfinden. Schlecht, oder? Die Antwort ist nein. Meist ist das eine Verhalten nicht besser oder schlechter zu bewerten als das andere. Es sind lediglich unterschiedliche Arten, wie Kinder ihr Innenleben und ihre Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Kein einfacher Gedanke, wenn ich mir doch so sehr wünsche, dass mein Kind nicht ausflippt, schreit, zappelt, ständig widerspricht oder ein unangepasstes Verhalten an den Tag legt. 

Das kindliche Gehirn entwickelt sich von Geburt an ständig – abgeschlossen ist die Entwicklung aber erst mit 25 Jahren. Ist das nicht tröstlich für Eltern mit kleinen Kindern? Und ein Grund, nicht zu verzweifeln, wenn die eigenen offiziell erwachsenen Kinder sich gar nicht erwachsen verhalten? Abgesehen davon, dass ich selbst mich nicht immer erwachsen verhalte…

Hier in aller Kürze ein paar Details:

  • Die Hirnentwicklung dauert lange – von der Geburt bis zum Alter von 25 Jahren.
  • In den ersten fünf Jahren entwickeln sich alle Bereiche von der Sinnesverarbeitung bis zum rationalen Denken.
  • Die Fähigkeit zu komplexem Denken entwickelt sich erst im Alter von 12 und 18 Jahren.
  • Die Entwicklung der Amygdala, also der Teil im Gehirn, der uns verstehen lässt, wie sich unsere Handlungen auswirken, wird als letzte abgeschlossen.

Ich habe festgestellt, dass es für mich einfacher ist, Mitgefühl zu zeigen und Lösungen zu suchen, wenn mir bewusst ist, dass mein Kind nicht schwierig ist. Sondern, dass es schwierige Momente erlebt und von Emotionen überwältigt wird. Und selbst in den schlimmsten Momenten vor allem eines will: Die Verbindung mit uns.

Zudem werden unsere Kinder manchmal von ihren Emotionen so überwältigt, dass sie gar keinen Zugang zu diesem wichtigen Teil des Gehirns mehr haben. Dann hilft es, eine Pause einzulegen und zu etwas anderem übergehen respektive das Kind sich mit etwas anderem beschäftigen lassen. Solange bis der rationale Teil des Gehirns wieder online ist. Sicher hilft es enorm, wenn wir verstehen, was das kindliche Hirn bereits in der Lage ist, zu leisten und wie sich das aufs Verhalten auswirkt. Auch hilfreich ist es, die Messlatte beim Kind nicht höher anzulegen als bei sich selbst:-) Ich habe festgestellt, dass es für mich einfacher ist, Mitgefühl zu zeigen und Lösungen zu suchen, wenn mir bewusst ist, dass mein Kind nicht schwierig ist. Sondern, dass es schwierige Momente erlebt und von Emotionen überwältigt wird. Und selbst in den schlimmsten Momenten vor allem eines will: Die Verbindung mit uns. 

Wann hast du das letzte Mal gedacht, dass dein Kind sich daneben verhalten hat? Wie beurteilst du die Situation, wenn du berücksichtigst, dass es unter Umständen noch nicht in der Lage ist, sich angemessen zu verhalten? Was ändert sich in deinen Gedanken / Gefühlen und in deinem Verhalten? Kannst du das auch in zukünftigen Situationen anwenden?

*In Anlehnung an Yolanda Renteria, Gottman-Blog

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