Barbara und Bruno haben dieses Jahr ihren 27. Hochzeitstag gefeiert. In diesen Jahren hat sich ihre Beziehung immer wieder verändert. Ihre heutige Ehe hat nur noch wenig mit den Anfängen ihrer Partnerschaft zu tun.
Wie die meisten Paare sind sie mit viel Idealismus und Enthusiasmus gestartet. Schnell fanden sie gemeinsame Hobbys und konnten so viel Zeit miteinander verbringen. Ihre Beziehung war in dieser Phase harmonisch und sie fühlten sich einander sehr nah. Das blieb über einige Jahre so.
Doch ihre starke Verbundenheit hatte auch Kehrseiten. Es gab immer weniger Gesprächsstoff, da sie mehrheitlich das Gleiche erlebten und gleich darüber dachten. Die Tiefe ihrer Beziehung nahm ab, da sie sich einander in ihrer Unterschiedlichkeit nicht gegenseitig zumuteten, sondern sich lieber dem anderen anpassten. Auch die sexuelle Anziehungskraft zwischen ihnen wurde deutlich kleiner.
Zuerst strampelte sich Barbara von dieser immer mehr einengenden Verbundenheit los. Plötzlich begann sie, wieder Zeit getrennt von ihrem Mann zu verbringen und Freundinnen zu treffen. Sie fand neue Freizeitbeschäftigungen. Immer öfter tat sie ihre eigene Meinung energisch kund, weil sie sich nicht mehr ständig verbiegen wollte. Später tat es ihr Bruno gleich. Auch er suchte plötzlich stark die Eigenständigkeit. Es war für beide eine Art Midlife-Crisis, die natürlich zu vielen Auseinandersetzungen führte.
Mit der Zeit akzeptierten sie ihre Andersartigkeit immer besser und die Konflikte nahmen ab. Neben dem gemeinsamen Leben gingen beide auch ihren individuellen Interessen nach. Das war für sie ein Befreiungsschlag.
Einige Jahre später wich dieses befreiende Gefühl langsam einer unguten Vorahnung. Sie mussten feststellen, dass sie sich fast unmerklich voneinander distanziert hatten und einander immer mehr aus dem Weg gehen. Die Beziehung litt mittlerweile unter der vor Jahren errungenen Eigenständigkeit. Bruno meinte treffend, dass es sich anfühle, als wären sie bloß Mitbewohner und kein Liebespaar.
Barbara und Bruno sind, ohne es zu merken, von einem Pol zum anderen geschlittert. Von einer Verschmelzung zur kompletten Individualität. Dabei wissen sie genau, dass es erfolgversprechender wäre, auf keiner der beiden Seiten vom Pferd zu fallen: Weder vor lauter Verbundenheit mit dem Partner sich selbst zu verlieren, noch durch allzu große Eigenständigkeit die Verbindung zum Gegenüber einzubüßen.
Eigenständigkeit und Verbundenheit gehören beide zusammen. Es ist kein „Entweder – oder“, sondern ein „Sowohl – als auch“. Sich zumuten und sich zuwenden. Eigenständigkeit und Verbundenheit sind keine Gegensätze, sondern befruchten sich gegenseitig. Eigenständigkeit macht dort Sinn, wo die gemachten Erfahrungen wieder in einer Gemeinschaft geteilt werden können. Und echte Verbundenheit entsteht dort, wo sich zwei eigenständige Menschen immer wieder frei füreinander entscheiden.
Es ist Barbara und Bruno zu wünschen, dass es ihnen nun gelingt, in eine dritte Beziehungsphase überzugehen, die geprägt ist von Eigenständigkeit und Verbundenheit.
NEXT LEVEL FÜR MEINE BEZIEHUNG:
Wie kann es euch gelingen, gleichzeitig Verbundenheit und Eigenständigkeit zu kultivieren?