Als Kind habe ich viel Zeit mit meinen Großeltern verbracht – Nachmittage, Tage, Wochenenden und Ferien. Mit meinem Großvater verbrachte ich Stunden im Wald, meist ohne viele Worte. Vermutlich konstruierte er in Gedanken eine neue Maschine, während ich ihn mit meinen Kindergedanken unterhielt. Meine Großmutter war zwar chronisch krank und ihr Radius dadurch eingeschränkt, aber sie war da, hatte immer Zeit und viel Verständnis. Mit zwölf durfte ich mit ihnen nach Paris. Beide erzählten mir von ihren Eltern: Von der Urgroßmutter, die im Berner Mattenquartier aufgewachsen war, und vom Westschweizer Urgroßvater, den sie im Bahnhofsbuffet in Lyss kennenlernte, weil er sich als Billetkontrolleur dort verpflegte. Ich war beeindruckt als ich erfuhr, dass meine Großmutter als 6-jähriges Mädchen wegen einer Lungenkrankheit sechs Wochen allein zur Kur fahren musste. Und dass mein Großvater jeweils vor dem Frühstück für seinen Vater, der Metzger war, Fleisch austragen musste.
Mit meiner anderen Großmutter verbrachte ich weniger Zeit. Sie war mit Anfang 40 Witwe geworden, arbeitete danach als Gemeindeschreiberin und zog drei Kinder allein groß. Ich erinnere mich, wie sie erzählte, wie wenig Lohn sie für diese Arbeit bekam – und dass nach vielen Jahren ihr männlicher Nachfolger von Anfang an den 5fachen Lohn erhielt. Als ich Teenager war, zog sie in unser Nachbarhaus. Von da an gehörte sie einfach dazu. Regelmäßig verwöhnte sie uns mit Bräzeli und Nideltäfeli. Ihre Rezepte werden von uns allen verwendet, niemand käme auf die Idee, ein anderes Rezept zu gebrauchen! Zu sehen und hören, wie meine Großeltern ihr Leben gemeistert haben, hat mich geprägt.
Auch unsere Kinder verbrachten (und verbringen hoffentlich bald wieder) viel Zeit mit ihren Großeltern. Sie durften in allen Schulferien zu zweit und später zu dritt jeweils eine Woche bei ihnen verbringen. Sie genießen es, dass diese viel Zeit, einen riesigen Garten und noch mehr Verständnis und Liebe für sie haben.
Unsere Großeltern hinterlassen einen unauslöschlichen Eindruck. Bei Familienfesten tauchen meistens ein paar Geschichten über den einen oder anderen Großelternteil auf. Sie beeinflussen und formen unsere Familie. Forschungsergebnisse zeigen, dass Familiengeschichten Kindern helfen, Zugehörigkeitsgefühl und auch eine Vision, wer sie werden könnten, zu entwickeln. Kinder, die viel über ihre Familie wissen, tendieren dazu, Herausforderungen besser zu meistern. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2001 zogen die beiden Forscher Dr. Duke und Dr. Fivush folgende Schlussfolgerung: Je mehr Kinder über ihre Familiengeschichte wussten, desto stärker war ihr Gefühl von Kontrolle über ihr eigenes Leben und ihr Selbstwertgefühl ausgeprägt. Die gleichen Kinder wurden ein paar Monate später – nach den Terroranschlägen des 11. September – noch einmal befragt. Kinder, die viel über ihre Familie wussten, zeigten sich deutlich resilienter. Warum? Es hat mit dem Gefühl des Kindes zu tun, Teil einer größeren Familie zu sein, also zu etwas Größerem dazu zu gehören.
Wenn wir unseren Kindern und Enkeln Geschichten von uns und unseren älteren Familienmitgliedern erzählen, stärken wir den Geist und das Herz unserer Kinder fürs Leben – unabhängig davon, ob wir fröhliche oder eher schwierige Geschichten weitergeben.
Welche Geschichten werden in deiner Familie immer wieder erzählt? Welche Geschichten möchtest du deinen Kindern erzählen?
Oder werden bei dir vielleicht weniger Geschichten erzählt? Nimm dir vor, deine Geschichten zu erzählen. Und ermutige deine Kinder, ihren Großeltern Fragen zu stellen.
Tipp: Schenke deinen Eltern und Schwiegereltern ein Buch zum Ausfüllen, z.B. von Martin Gundlach „Erzähl mir dein Leben“. Im Buchhandel gibt es weitere Titel wie z. B. „Erzähl mal Opa/Oma“.