Erster Schultag nach den Frühlingsferien. Der Weckton des Smartphones ist heute besonders schrill. Draußen ist schlechtes Wetter. Ich betrete die Kinderzimmer und krächze ein «Guten Morgen». Das soll im Minimum neutral, im Maximum so motivierend und sinnstiftend sein, dass es den Nachwuchs direkt aus dem Bett in den Tag hinein schubst. Vorhänge zurück, Fenster auf. Da ich absolut kein Morgenmensch bin, verlangt mir das Programm bis hierhin schon einiges an Willenskraft ab. Geschirrspüler ausräumen, Pausenbrote schmieren und Haare zu Zöpfen flechten. Ich weiss noch nicht, ob ich es super finden soll, dass nach zwei Wochen der Alltag mit seinen Rhythmen und Klarheiten wieder einkehrt, oder ob ich die heranrollenden Aufgaben und Termine, an denen der Mief von Gewohnheit und Gewöhnlichem klebt, doch doof finden soll.
Meine verschlafenen, unentschlossenen Gedanken werden vom «Du bist perfekt!» meiner Tochter unterbrochen. Wo kommt das denn jetzt her? Was wie ein Kalenderspruch am Badezimmerspiegel klingt, ist der volle Ernst einer Achtjährigen mit strahlenden Augen und vollem Frühstücksmüesli-Mund. Ich drücke sie fest an mich. Worte verliere ich keine, obwohl sie mir auf der Zunge liegen würden. Vor allem die beschwichtigenden und welterklärenden. Dass ich sie für mich behalte, hat weniger mit meiner Ergriffenheit zu tun als mit dem schon erwähnten Fakt, dass ich überhaupt kein Morgenmensch bin. Um diese Tageszeit vermeide ich reden.
Erst jetzt, mehr als eine Stunde später, purzeln Worte als Reaktion auf diesen Satz durch meinen Kopf. Warum tappe ich immer wieder in die Perfektionismusfalle? Warum predige ich anderen den Wert des Fehlermachens und der Barmherzigkeit mit sich selbst, bin aber dort, wo es keiner sieht, unsagbar streng mit mir selbst? Warum ist das moderne Konzept der Selbstoptimierung so heimtückisch? Und wieso hat «gut» manchmal diesen schalen Beigeschmack?
Der britische Psychoanalytiker Donald Winnicott prägte bereits in den 1950er Jahren den Begriff der «good enough mother». (Als Kind seiner Zeit bezog er diesen Begriff nur auf Mütter. Heute wird vom Konzept des «good enough parenting» gesprochen). Ein Kind braucht keine perfekten, sondern nur passable, ausreichend gute Eltern. Es reicht, wenn wir in 50 bis 60 Prozent der Fälle richtig reagieren und einen halbwegs guten Job machen. Auch der verstorbene Jesper Juul schrieb, dass die besten Eltern täglich etwa 20 ernsthafte Fehler machen. Dabei sei es nur wichtig, dass sie die Verantwortung dafür übernehmen.
Halbwegs gut? Passabel? Das klingt in meinen Ohren nach fauler Anspruchslosigkeit oder einer Ausrede für das eigene Scheitern. Ich recherchiere weiter und merke mir Folgendes: «Hinreichend gute Eltern erkennen die Bedürfnisse ihrer Kinder und handeln entsprechend. Aber sie akzeptieren auch, dass Fehler machen zum Menschsein dazu gehört. Sie bestrafen sich nicht mit Schuld und Schamgefühlen. Sie verlangen weder von sich noch von ihren Kindern Perfektion, die in der Realität nicht gelingen kann.»
In diesem Sinne will ich mich damit anfreunden, gut genug zu sein und auf diesem Weg jeden Tag Fehler zu machen. Zum Beispiel diesen: Gestern habe ich meine Älteste unfreundlich angeschnauzt, weil sie ihre Schwester ständig unterbrochen hat. Ich atmete tief durch und entschuldigte mich noch im selben Moment für meinen Ton und ein bestimmtes Wort, das mir herausgerutscht war. Bin ich stolz darauf? Nein. Schäme ich mich dafür? Ich versuche, es nicht zu tun. Meine Älteste erfährt so, dass es dazu gehört, sich nicht immer hundertprozentig im Griff zu haben. Und sie lernt, wie man dafür Verantwortung übernehmen kann. So ungefähr hat mein «passabel» gestern ausgesehen. Ich bin mal gespannt, welche zwanzig Fehler es heute sein werden.
Wärst du gerne perfekt? Spürst du den Druck, als Elternteil alles richtig zu machen?
Wie reagierst du auf eigene Fehler? In welchen Bereichen solltest du dir selbst mehr Fehlertoleranz eingestehen?
Was könnte dir helfen, vom Perfektionismus zum Goodenoughism zu gelangen?