FAMILYLIFE
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Es war der Wendepunkt in ihrer Beziehung. Sabrina und Markus Weber erinnern sich noch, als wäre es gestern gewesen. Sie waren in einer turbulenten Phase ihrer Partnerschaft und haben sich entschieden, ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Beim dritten Termin geschah etwas, was sie nie mehr vergessen werden.

Wie gewohnt setzten sie sich auf ihre Stühle im Beratungszimmer von Herrn Beerli, die zusammen mit dem Stuhl ihres Beraters ein gleichschenkliges Dreieck gebildet haben. Dann drückte Herr Beerli ihnen beiden je ein Foto in die Hand. Er bat sie, dieses Bild still und konzentriert anzuschauen. Nach kurzer Zeit sammelte er die Fotos wieder ein, deutete auf ein unscheinbares Bild an der Wand des Sitzungszimmers und bat sie zu beschreiben, was sie sehen.

„Ich sehe einen Eskimo.“

„Einen Eskimo? Dieser Indianer ist wohl eher ein Apache oder so.“

„Als ob Apachen dicke Pelzmäntel tragen würden.“

„Du meinst wohl den Federschmuck.“

„Nein, wenn ich Mantel sage, meine ich Mantel und nicht Federschmuck. Sehen sie Herr Beerli, genau das meine ich.“ Herr Beerli zeigte keine Reaktion.

„Siehst du das denn nicht?“

„Jeder normale Mensch erkennt doch, dass das ein Eskimo ist.“

So ging es eine ganze Weile hin und her zwischen den beiden, ohne nennenswerte Fortschritte. Dann sagte Markus: „Kannst du mir mal deinen Eskimo zeigen?“ Da stand sie auf, ging zum Bild und sagte: „Das hier sind die Beine“. Bevor sie weitersprechen konnte, fiel ihr Markus ins Wort: „Das ist doch der Hals“. Nun stand auch er auf und lief zum Bild.

Jetzt erst begriffen sie, dass man beim Betrachten des Bildes zwei verschiedene Sachen sehen konnte. Bald sahen sie, was der andere gemeint hatte. Nun wurde ihnen bewusst, dass sie sich in eine lebhafte Diskussion verstiegen und dabei ihren Berater völlig ausgeblendet haben. Etwas verlegen traten sie den Rückweg zu ihren Stühlen an.

„Sehen sie, genau das ist ihr Problem“, begann jetzt Herr Beerli in freundlichem Tonfall. „Sie beide haben unterschiedliche Prägungen. Deshalb haben sie auch eine andere Sicht aufs Leben und interpretieren die objektiv genau gleiche Situationen verschieden. Ihnen, Herr Weber, habe ich zuerst ein Foto eines Marterpfahls gezeigt. Deshalb haben sie auf dem Wandbild sofort den Kopf eines Indianers gesehen. Sie, Frau Weber, bekamen hingegen zuerst das Foto eines Iglus. Deshalb sahen sie dann einen Eskimo im Pelzmantel.“

Nun machte er eine unangenehm lange Pause. Endlich fuhr er mit ernster Stimme fort: „Sie beide wollen ihrem Gegenüber ihre Sichtweise der Dinge klarmachen. Ihre Partnerin oder ihren Partner überzeugen, dass sie recht haben und man es gleich wie sie sehen sollte. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst sind, merken sie vielleicht, dass es sie nicht wirklich interessiert, was der andere wahrnimmt und wie er oder sie es erlebt. Sie sind so damit beschäftigt, für ihre eigene Sicht einzustehen, dass sie vergessen, sich ernsthaft für die Sicht ihrer Partnerin oder ihres Partners zu interessieren.“

Stille. Das hat gesessen.

„Sie brauchen keine Kommunikationstipps und keine Sexualtherapie. Ich lade sie aber ein, zu lernen, dass man einen Eskimo und einen Indianer sehen kann. Und dass keine dieser beiden Sichtweisen irrationaler, krankhafter, verkorkster oder gefühlsverkrüppelter ist als die andere – um mal Worte von ihnen aus unseren ersten beiden Sitzungen zu brauchen. Wollen sie mal versuchen, die Wahrnehmung ihres Gegenübers zu verstehen?“

 

NEXT LEVEL FÜR MEINE BEZIEHUNG:
In welchen Situationen denkst du, dein Gegenüber ticke nicht ganz richtig? Versuche mal, ihre oder seine Wahrnehmung wirklich zu verstehen.

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