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“Also, das war so, Mama: Heute morgen hat sich ein Kind wegen mir den Arm gebrochen. Es musste zum Arzt und Frau T. hat mich dann zur Strafe auf dem Dach des Kindergartens balancieren lassen.” Es war ein normaler Dienstag und wir saßen zu dritt beim Mittagessen. Ich hörte mit einem halben Ohr zu, was unsere Älteste, damals vier, von ihrem Morgen im Kindergarten erzählte. Gleichzeitig versuchte ich, die jüngere Schwester davon abzuhalten, ihr gesamtes Essen auf dem Fußboden zu verteilen. Hä? Arm gebrochen, Arztbesuch, auf dem Dach balancieren. Nun hatte sie meine volle Aufmerksamkeit. 

Ich hatte gerade zum ersten Mal Bekanntschaft mit überbordender kindlicher Phantasie gemacht. Oder besser gesagt, mit der kindlichen Unfähigkeit, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Ich schwankte zwischen Verblüffung und Sorge. Ein Gespräch mit der Kindergartenlehrerin brachte Klarheit über das Vorgefallene und ich lernte, dass Kindergartenkinder Phantasie und Realität vermischen. Irgendwann verliert sich das dann und Kinder erzählen keine Phantasiegeschichten mehr. Sie leben stärker in der Realität als in ihrer Vorstellungskraft.

Immaculee Ilibagiza ist eine Afrikanerin, die – damals 23-jährig – als einzige ihrer Familie den Genozid in Ruanda überlebte. Ein Nachbar versteckte sie 91 Tage lang zusammen mit sieben anderen Frauen in einem Badezimmer. Während dieser Zeit betete sie und lebte buchstäblich in ihrer Phantasie: Zuerst stellte sie sich ihre Familie im Himmel vor. Dann nutzte sie ihre Vorstellungskraft und stellte sich das Leben vor, dass sie nach dem Krieg führen wollte. In ihrem Buch “Aschenblüte, ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann” beschreibt sie, wie sie sich selbst als Mitarbeiterin bei den Vereinten Nationen (UNO) in New York vorstellte – sogar die Telefonnummer, die sie dann haben würde, stellte sie sich vor. Vier Jahre später nach Kriegsende zog sie in die USA und begann bei der UNO zu arbeiten. 

Vorstellungskraft ist nicht nur etwas für kleine Kinder. Mit ihr haben Menschen Kunstwerke geschaffen, sich das All erklärt und nach Schicksalsschlägen ein neues Leben aufgebaut. Der Autor Yuval Noah Harari meint sogar, dass es die Vorstellungskraft ist, die uns als Menschen ausmacht. Für ihn ist sie auch die Fähigkeit, über den eigenen Gartenzaun hinauszuschauen und Wege zu finden, wie Zusammenleben gehen kann. Mit unserer Vorstellungskraft können wir eine Vision der Zukunft heraufbeschwören und diese verwirklichen. 

Unser Lebensstil bietet nicht von selbst viel Platz für Imagination, weder für uns noch für unsere Kinder. Die Möglichkeit, jederzeit online zu sein und damit einer ständigen Informationsflut ausgesetzt zu sein, verhindert Neugierde und zerstört die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen. Es hat wenig Raum für Staunen, Ehrfurcht und Reflexion. 

Während Kinder sich mit ihren Realitäten arrangieren müssen, ist es gleichermaßen wichtig, dass sie wissen: Ihre Vorstellungskraft kann ihre Zukunft oder den Erfolg von etwas beeinflussen – in ihrem eigenen Leben und in der Welt. 

Dann ist da die Realität. Zwei Jahre Pandemie, gefolgt von einem Krieg in Europa, der uns alle fassungslos macht. Kleine Kinder betrifft das nicht gross. Aber bereits Kindergartenkinder nehmen vieles wahr. Dazu kommen die ganz normalen Herausforderungen des Alltags und viele Anforderungen von Schule, Eltern und dem Umfeld. Während Kinder sich mit ihren Realitäten arrangieren müssen, ist es gleichermaßen wichtig, dass sie wissen: Ihre Vorstellungskraft kann ihre Zukunft, ein Ergebnis oder den Erfolg von etwas beeinflussen kann – in ihrem eigenen Leben und in der Welt. Es gibt immer einen Spielraum für Imagination. Mein Mann und ich sind auf jeden Fall sehr gespannt: Ob unsere Jüngste wohl mal berittene Polizistin sein wird?

Wie kannst du die Vorstellungskraft deiner Kinder (und deine eigene) entwickeln und stärken? Eine Möglichkeit ist, bei den zwei nachfolgenden Punkten anzusetzen: 
Leere Zeiten und Langeweile: Haben deine Kinder unverplante Zeiten? Wie reagierst du, wenn ihnen dann langweilig ist? 
Miteinander reden: Tauscht euch in der Familie über Träume aus. Ermutige größere Kinder zum Träumen. Lass sie erzählen und stelle Fragen (auch zur Umsetzung ihrer Träume). Wenn ihr als Familie betet: Redet mit Gott über das, was ist und darüber, wie ihr euch etwas vorstellt.

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