Endlich Feierabend. Kim legt sich aufs Sofa und beantwortet ein paar Nachrichten. Ihr Mann Tobias räumt derweil den Tisch ab und macht den Abwasch. Insgeheim nervt er sich, dass er das jetzt macht. Hatte er nicht einen ebenso strengen Tag wie Kim? Andererseits: Ist es wirklich so schlimm, ein paar Teller in den Geschirrspüler zu stellen, während seine Frau sich erholt? Die Situation jetzt anzusprechen, fände er kleinlich.
Als Tobias fertig ist, setzt er sich in den Sessel. Kim hat feine Fühler und merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. „Alles klar bei dir Schatz?“, fragt sie.
„Jaja, alles bestens“, antwortet er und glaubt in dem Moment irgendwie selbst, dass es stimmen würde. Doch es bleibt eine gewisse Anspannung in der Luft, ihre Beziehung fühlt sich distanziert an.
Diese Szene spielt sich so oder ähnlich tausendfach in unseren Wohnzimmern ab. Ich kenne kein einziges Paar, bei welchem es nicht zu solchen Interaktionen kommt. Irgendetwas löst ein negatives Gefühl aus: Jemand kommt zu spät, sagt etwas Verletzendes, trinkt oder isst zu viel, verhält sich destruktiv, gibt zu viel Geld aus … Es gibt unendlich viele Auslöser für negative Gefühle, gerechtfertigt oder nicht.
Darauf folgt die falsche Zurückhaltung. Wir sprechen eine Situation nicht an, die auf eine gute Art und Weise angesprochen gehört. Wir sagen nicht die volle Wahrheit. Entweder, weil wir unsere Reaktion für ungerechtfertigt halten, die Reaktion des Gegenübers fürchten oder uns nicht exponieren und verletzbar machen wollen.
Das Problem an der falschen Zurückhaltung ist, dass sie auf direktem Weg zu Rückzug führt. „Jaja, alles bestens“, ist die Antwort von jemandem, der sich emotional entzogen hat, der nicht mehr da ist. So entsteht Distanziertheit.
Falsche Zurückhaltung führt zu Rückzug und das wiederum zu Distanziertheit. Paare, die sich über viele Jahre nahe bleiben wollen, müssen diese Abfolge immer wieder durchbrechen. Das gelingt, indem wir unsere falsche Zurückhaltung ablegen und die volle Wahrheit aussprechen.
Es ist selbsterklärend, dass die volle Wahrheit von Tobias nicht „du liegst auf dem Sofa rum, während ich arbeite“ heißt. Wenn er stattdessen „ich fühle mich alleingelassen, bin mir aber auch nicht sicher, ob ich da nicht etwas überreagiere“ sagt, startet er ein Gespräch, in dem sie einander Einblick in ihre Welt geben und zusammen eine gute Lösung finden können. So wird Nähe statt Distanziertheit entstehen.
NEXT LEVEL FÜR MEINE BEZIEHUNG:
In welchen Situationen zeigst du eine falsche Zurückhaltung? Weshalb und mit welchen Folgen für eure Partnerschaft?