Marcel ist beruflich sehr engagiert und steckt viel Herzblut und Zeit in seine Arbeit. In seiner Freizeit treibt er mit großem Einsatz den Aufbau des von ihm gegründeten Gewerbevereins voran. Obwohl sein Wecker werktags jeweils um 5:00 Uhr klingelt, kommt er abends oft erst nach 22:00 Uhr wieder nach Hause. Und wenn er an einem Abend mal keine Sitzung hat, nutzt er die Zeit, um liegengebliebene Geschäftsmails zu beantworten.
Seine Ehefrau Tanja leidet unter der fehlenden gemeinsamen Zeit. Sie findet die Situation unhaltbar und mittlerweile glaubt sie auch seinen Beteuerungen nicht mehr, dass diese Phase bald vorbei sein würde und sie dann wieder mehr Zeit zusammen hätten. In ihrer Verzweiflung konfrontiert sie Marcel immer häufiger damit, dass er sich zu wenig Zeit für sie nimmt und ihre Beziehung so zugrunde gehen wird. Dabei wird sie immer fordernder.
Diese Vorwürfe führen dazu, dass für Marcel die gemeinsamen Zeiten mit Tanja immer unangenehmer werden. Ihm ist die Lust vergangen, an ihren Paarabenden ständig darüber zu diskutieren, dass er zu viel macht und zu wenig zu Hause ist. Früher hat er noch versucht, so viele Abende wie möglich freizuschaufeln. Mittlerweile kommt ihm eine weitere Vorstandssitzung an einem Abend nicht mehr so ungelegen. Das wiederum führt bei Tanja zu noch größerer Frustration.
Für viele Probleme in unserem Leben gibt es naheliegende Lösungen: Es ist kalt, wir heizen. Ist es uns immer noch zu kalt, heizen wir mehr. Diese Lösungen nennt man Lösungen erster Ordnung. Sie entsprechen dem gesunden Menschenverstand und funktionieren oft nach dem Prinzip „mehr desselben“. Wie Marcel und Tanja stoßen wir aber in unserer Partnerschaft immer wieder auf Probleme, für die es keine Lösung erster Ordnung gibt. Im Gegenteil, „mehr desselben“ verschärft den Teufelskreis nur noch. Mehr Forderungen nach Nähe führen beispielsweise häufig zu mehr Distanz.
Lösungen zweiter Ordnung funktionieren fundamental anders. Sie sind häufig überraschend, manchmal absurd oder paradox. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick fasste es so zusammen: „Lösungen zweiter Ordnung heben die zu lösende Situation aus dem paradoxen, selbstrückbezüglichen Teufelskreis heraus, in den sie die bisherigen Lösungsversuche geführt haben, und stellen sie in einen neuen, weiteren Rahmen.“
Eine Freundin schlägt Tanja eine solche Lösung zweiter Ordnung vor. Sie solle selbst mehr unternehmen, statt ihre Abende in der Hoffnung freizuhalten, dass sich Marcel Zeit für sie nimmt. Für Tanja klingt das erst mal nach einem ziemlich schlechten Vorschlag. Wenn sie abends auch noch unterwegs wäre, hätten sie ja noch weniger gemeinsame Zeit. Doch mit ihrem Ausstieg aus der vorhandenen Paardynamik würde sie den Weg dafür ebnen, dass Marcel wieder mehr Zeit mit ihr verbringen möchte.
Weil sich Tanja jedoch nicht mit dieser Idee anfreunden kann, entscheidet sie sich für eine andere Lösung zweiter Ordnung: Sie nimmt sich vor, sich einen Monat lang nicht mehr darüber zu beschweren, dass sie zu wenig gemeinsame Zeit haben. So besteht die Chance, dass die gemeinsame Zeit wieder schöner wird und sich deshalb auch Marcel wieder für mehr Paarabende einsetzt.
NEXT LEVEL FÜR MEINE BEZIEHUNG:
Welche Lösung zweiter Ordnung könntest du für einen eurer wiederkehrenden Konflikte ausprobieren?