Es ist Mitte Mai und viel zu heiss. Im Büro herrscht sommerliche Hitze, der Frühling hat sich leider bereits verabschiedet. Statt diesen Blogbeitrag zu schreiben, denke ich darüber nach, in den hohen Norden auszuwandern… Als es später kühler wird, kommt mein Kopf wieder in Schwung. Soll ich darüber schreiben, dass unsere Agenda grad recht voll ist? Viele spannende schöne Begegnungen und Anlässe finden in den nächsten Wochen statt. Oder doch eher darüber, dass mir angesichts der vielen Termine und jenen meiner Mädchen leicht schwindlig wird? Oder darüber, dass viele Kinder ein ziemlich vollgepacktes Leben haben?
Am Abend im Wohnzimmer fällt mein Blick auf das Büchlein mit den Erinnerungen meiner Großmutter (Jahrgang 1919). Mit drei Geschwistern wuchs sie auf dem elterlichen Bauernhof im Berner Seeland auf. Sie erlebte eine behütete Kindheit in herausfordernden Zeiten. Meine Großmutter war ein Wildfang, und niemand hatte Zeit, die Kinder die ganze Zeit zu beaufsichtigen. Bereits mit fünf Jahren musste sie Kühe hüten. Dazu machte sie mit zwei Freunden jeweils ein Feuerchen, worin sie Äpfel brieten. “Autos gab es keine, nur von Pferden gezogene Fuhrwerke. Da sprangen wir oft hinten auf den Wagen und fuhren ein Stück weit mit…. Unterwegs sprangen wir dann wieder hinunter und liefen zufrieden nach Hause”. Dass sie später in Begleitung des Lehrers, aber ohne die Erlaubnis der Eltern, die Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule machte, war ein Ausdruck ihrer Eigenständigkeit und ihres Tatendrangs.
Ich bin fasziniert, und beim Lesen springen mir zwei Dinge ins Auge. Zum einen mussten die Kinder (auf dem Hof) früh mit anpacken. Zum anderen war die übrigbleibende freie Zeit meist völlig unverplant. An diesem Punkt bleibe ich hängen. Ich schiebe meinen saisonalen Schuljahresend-Schwindel zur Seite; bei der freien Zeit klingt etwas in mir an.
Das Durchschnittskind von heute lebt ein komplett anderes Leben. In vielen Familien sind die Wochen – gewollt oder ungewollt – eng getaktet, und für die Kinder bleibt da wenig Zeit, um einfach mal zu spielen, zu sein oder auch sich zu langweilen. Aber warum sollten sie das überhaupt? Es braucht heute andere Fähigkeiten, um das Leben zu meistern als früher. Das stimmt natürlich, aber leider geht dabei vergessen, dass Spielen – wissenschaftlich erwiesen – die beste Frühförderstrategie ist und fürs Leben fit macht.
Warum also spielen Kinder heute so viel weniger als noch vor ein paar Jahren (50% weniger als vor 25 Jahren)? Wir möchten doch alle Kinder, die das Leben meistern. Hier drei Gründe*:
- Erstens beurteilt eine Mehrheit der Eltern das Spielen und zweckfreie Zeit als banal und nicht zielorientiert, also findet es keinen Platz im Alltag.
- Zweitens gibt es eine gesellschaftliche Fehlentwicklung, die Eltern für jedes Fehlverhalten ihrer Kinder sofort die Schuld in die Schuhe schiebt. Das setzt Eltern unter Druck, alles richtig zu machen. Frühförderung wird als Folge mit der Anzahl besuchter Angebote verwechselt. Kinder einfach wachsen zu lassen, scheint kein guter Plan mehr zu sein. Die Vorstellung, in Kursen könne das Kind auf die Unbill des Lebens vorbereitet werden, während es im Wald überfordert sein könnte, hat sich in den Köpfen festgesetzt.
- Ängste in allen möglichen Ausprägungen: Vor Verletzungen beim Spielen; davor, keine Kontrolle zu haben oder einen wichtigen Entwicklungsschritt zu verpassen, ohne das Beste daraus gemacht zu haben.
Ich finde mich in jedem einzelnen dieser Punkte. Ich habe mich ernsthaft gefragt, ob meine Kinder etwas Wichtiges verpassen, wenn sie nicht mit drei Jahren Ballettstunden nehmen. Ich habe mich schlecht gefühlt, weil ich wegen Nichtkönnen nicht mit ihnen bastelte. Und, und, und …
Ein Kind braucht ein gutes Selbstkonzept, das heisst, es hat Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten. Dann braucht es eine gewisse Frustrationstoleranz. Es muss also in der Lage sein, eine Hürde zu meistern, ohne aufzugeben oder ohne dass die Eltern zeigen, wie es geht. Und drittens braucht es Neugier. Dies, um in der Schule erfolgreich, leistungsbereit und lernmotiviert zu sein.
Weil ich Spielen und unverplante Zeiten als wichtig erachte, versuche ich ein Gleichgewicht zwischen Aktivitäten und freier Zeit herzustellen. Das sieht und sah je nach Alter und Kind anders aus. Nein zu sagen zu attraktiven Angeboten, kostet mich auch immer wieder emotionale Energie. Was mich motiviert, dranzubleiben, ist die Antwort auf die Frage: “Was braucht es, damit ein Kind längerfristig das Leben meistert?” *Ein Kind braucht ein gutes Selbstkonzept, das heisst, es hat Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten. Dann braucht es eine gewisse Frustrationstoleranz. Es muss also in der Lage sein, eine Hürde zu meistern, ohne aufzugeben oder ohne dass die Eltern zeigen, wie es geht. Und drittens braucht es Neugier. Dies, um in der Schule erfolgreich, leistungsbereit und lernmotiviert zu sein. Gerade letztere entsteht nicht durch möglichst viele Aktivitäten.
Ein paar Tage später sitze ich zu Hause am Schreibtisch. Draussen hat es eher unerwartet und stark zu regnen begonnen. Über dem Jura donnert es leicht. Unsere Jüngste wird in ein paar Minuten von der Schule nach Hause kommen – in T-Shirt, kurzen Hosen und Sandalen. Muss ich aktiv werden? Aber warum sollte ich das tun? Sie schafft das alleine und es macht null Sinn, ihr ungefragt ein Hindernis aus dem Weg zu räumen und ihr die Freude, barfuss durch alle Pfützen zu hüpfen, zu nehmen.
Was sind deine Gedanken zum Spannungsfeld von Spielen (lassen) und Fördern?
Im vollen Alltag Raum für Spiel- und Leerzeiten lassen: Machst du das? Wenn ja: Was erlebst du dabei?
Bis Kinder spielen, müssen sie und wir oft eine Zeit der Langeweile aushalten. Wie gehst du damit um?
* Margrit Stamm in Fritz+Fränzi, 2016
Alexandra Kämpf ist verheiratet mit Richard. Zusammen haben sie drei Töchter im Alter von 9 bis 20 Jahren.
Sie arbeitet bei FAMILYLIFE und verantwortet dort die Ehe- und Elternkurse.