Der Duft von frischem Brot steigt mir in die Nase, als ich auf die Bäckerei zugehe. Schwungvoll betrete ich den Laden und bleibe vor der Theke stehen, bis mich jemand anspricht und fragt, was ich haben möchte. Ich gebe keine Antwort. Die Verkäuferin denkt, ich hätte sie nicht gehört, und wiederholt ihre Frage etwas lauter. Ich schaue sie an, gebe aber wieder keine Antwort. Sie versucht es jetzt mit einem konkreten Vorschlag: „Darf ich Ihnen einen Butterzopf geben?“ Ich verneine. „Wie wäre es mit einem Siebenkornbrötchen?“ Da schüttle ich ganz entschieden den Kopf. „Wollen sie ein Vollkornbrot?“ Auch das will ich nicht. Die Verkäuferin pendelt zwischen Verzweiflung und Verständnis und sagt mir bemüht freundlich, ich solle mich doch entscheiden, während sie die Kundin hinter mir bediene. Jetzt werde ich wütend. Kopfschüttelnd stapfe ich aus der Bäckerei und murmle vor mich hin, was ihr eigentlich einfalle, mir nicht das Roggenbrot anzubieten. So eine Frechheit!
Eine absurde Vorstellung? Ja, selbstverständlich. Doch in unseren Beziehungen verhalten wir uns manchmal genauso. Wir erwarten, dass unser Partner unsere Bedürfnisse errät. Und wenn sie oder er es nicht tut, sind wir enttäuscht. Dass der Partner uns jeden Wunsch von den Augen ablesen müsste, ist eine romantische Vorstellung, von der wir uns besser früher als später verabschieden.
Nehmen wir an, du möchtest, dass dir deine Frau in der Küche beim Ausräumen des Geschirrspülers hilft. Sie aber sitzt auf dem Sofa und liest etwas auf ihrem Smartphone. Du spürst deinen Ärger langsam hochkochen. Du seufzt laut und machst extra Lärm beim Hantieren.
Nehmen wir an, du wünschst dir mehr Wertschätzung von deinem Mann. Er aber scheint deinen großen Einsatz nicht zu bemerken und dich für selbstverständlich zu nehmen. Als du gerade wieder einmal für ihn eingesprungen bist und die Kinder beschäftigst, damit er kurzfristig seinem Freund beim Umziehen helfen kann, spürst du deinen Ärger langsam hochkochen. Wie kann er nur so ignorant sein?
Unser Gegenüber kann leider keine Gedanken lesen. Deshalb müssen wir lernen, unsere Bedürfnisse zu äußern und nach dem zu fragen, was wir uns wünschen. Das kostet uns oft Überwindung, weil wir damit auch riskieren, zurückgewiesen und abgelehnt zu werden. Doch wir empfinden es auch als Zurückweisung, wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden.
Der Autor und Therapeut Terry Real hat eine einfache Regel aufgestellt: „Du hast kein Recht, dich darüber zu beschweren, dass du etwas nicht erhalten hast, wonach du nie gefragt hast.“ In der Bäckerei erscheint uns das logisch. In der Beziehung müssen das viele Menschen noch trainieren.
NEXT LEVEL FÜR MEINE BEZIEHUNG:
In welcher Situation hast du zuletzt erwartet, dass dein Gegenüber deine Bedürfnisse errät?