Letzte Woche wurde unsere Älteste elf. Manchmal denke ich darüber nach, wie viel wir von ihr in den ersten Jahren ihres Lebens erwartet haben. Gut möglich, dass es zu viel war. Selbstständigkeit, Emotionskontrolle, Vorbildfunktion, Anpassung – um nur einiges zu nennen. Wie wäre es auch anders möglich gewesen, da nach 16 Monaten bereits Kind Nr. 2 und nach weiteren 16 Monaten Kind Nr. 3 zur Welt gekommen ist. Das Ankommen eines weiteren Menschen in unserer Familie hat alle bisherigen Mitglieder in größere Verantwortung gezogen.
Jahre später sitzen mein Mann und ich beim Elterngespräch unserer vierten und jüngsten Tochter im Kindergarten. Sie sei sehr unselbstständig und kleinkindlich, heißt es. Wir bekommen den Tipp, der Tochter zu Hause ein Ämtli zu übertragen, damit sie sich in Verantwortung üben und daran stark werden kann. Bäm! Ich muss zugeben, es kratzt an meinem Stolz als vierfache Mutter und gelernte Primarlehrerin, dass wir soeben einen eindeutigen Ratschlag für Anfänger bekommen haben. Inhaltlich stimme ich der Lehrperson zu 100% zu. Der Fall ist klar: Es besteht ein großer Unterschied zwischen den Anforderungen, denen unsere Älteste damals mit sechs Jahren entsprechen musste und dem, was wir heute von unserer Jüngsten erwarten. Warum ist das so? Nach längerem Nachdenken komme ich zu folgenden Erkenntnissen. Entweder haben wir als Eltern a) endlich dazugelernt und uns entspannt. Oder wir haben b) schlicht und einfach die Zügel schleifen lassen.
Um herauszufinden, welche Option auf uns zutrifft, wende ich mich an Google. Ich haue – nicht ganz ernst gemeint – den Suchbegriff «Was ein Kind mit 6 Jahren können sollte» in die Tastatur und finde mich in irrwitzigen Listen wieder. Erstaunlicherweise sind die klassischen Ämtli «Kompost rausbringen» oder «Tisch abräumen» nirgends zu finden. Aber ich erfahre, dass mein Kind Zahlenbilder bis 10 erkennen, die Regeln eines Spiels verstehen und einen Satz mit 12 Wörtern nachsprechen können sollte. Auch den Galoppschritt und Hampelmannsprung müsste sie beherrschen und Aufgaben bis zum Ende erledigen können.
Das bringt mich in der Frage, ob wir die Unselbstständigkeit der Jüngsten nun entspannt hinnehmen oder mit angepassten Anforderungen ausmerzen sollten, nicht wirklich weiter. Was mir jedoch klar wird: Es kann nicht das Ziel sein, Aufträge zu erteilen und Gehorsam einzufordern. Als Eltern wollen wir stattdessen Eigenverantwortung ermöglichen. Das ist ein pädagogischer Paradigmenwechsel, den ich umsetzen will. Unsere Sechsjährige soll zu einer verantwortungsvollen Jugendlichen und jungen Erwachsenen heranwachsen. Und das hat dann plötzlich mehr mit mir zu tun als gedacht. Ich kann mein Kind zu sich selbst ermutigen. Ich kann ihm etwas zutrauen und überlassen, damit es wachsen kann. Vielleicht fange ich beim «Kompost-Ämtli» an. Vielleicht aber auch ganz woanders.
Welche Anforderungen stellst du an deine Kinder? Welche Ziele verfolgst du damit?
Wie gehst du mit Kritik von außen um? Regt sie dich zum Nachdenken an, ignorierst du sie oder nimmst du sie persönlich?