Anna und Christian fühlten sich sexuell zunehmend distanziert. Ihr Sexleben war routiniert, mechanisch und fühlte sich leblos an. Obwohl beide mit der Situation unzufrieden waren, sprachen sie kaum darüber, geschweige denn über ihre eigentlichen Wünsche und Fantasien. Das änderte sich erst, als Anna ein Buch über Beziehungsdynamik las und deshalb das Thema ansprach. Sie äußerte erstmals, dass sie es mag, wenn er beim gemeinsamen Liebesspiel etwas bestimmter auftritt. Und Christian sagte, er wünsche sich mehr sinnliche, langsame Berührungen. Diese neue Offenheit führte schnell zu mehr Nähe, Vertrauen und einer spürbar gesteigerten sexuellen Zufriedenheit. Ermutigt durch diese ersten Erfolge begannen sie, regelmäßig intime Gespräche zu planen – ihre sogenannten Sex-Check-ins. Dabei sprachen sie offen über ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche.
Gerade heute Morgen bin ich wieder über eine Studie gestolpert, die nachgewiesen hat, dass sich mehr sexuelle Selbstoffenbarung positiv auf das Sexualleben auswirkt. Je mehr man seinem Partner Einblick in seine sexuellen Vorlieben und Wünsche geben kann, desto erfüllender erleben beide den gemeinsamen Sex. Die emotionale und körperliche Verbindung vertieft sich, wenn wir den Mut haben, einander mehr von uns zu zeigen.
Im hebräischen und griechischen Urtext der Bibel wird Geschlechtsverkehr häufig mit dem Wort erkennen beschrieben. So heißt es zum Beispiel: „Adam erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger“. Sich zu erkennen zu geben und den anderen zu erkennen ist der Schlüssel zu einer gelingenden Paarsexualität.
Dieses Sich-zu-erkennen-geben ist nie abgeschlossen. Es reicht nicht aus, ein einziges Gespräch über Wünsche, Vorlieben oder Fantasien zu führen und damit das Thema als erledigt zu betrachten. Es ist vielmehr ein fortlaufender Austausch, der sich im Idealfall auf immer tieferer Ebene wiederholt. So wie sich unsere Sexualität im Laufe der Zeit entwickelt und wir dabei mehr über uns selbst erfahren, so sind wir auch immer wieder auf einer tieferen Ebene gefordert, uns unserer Partnerin zu erkennen zu geben.
Viele Menschen ahnen, dass es ihre Beziehung vertiefen würde, wenn sie ihrem Partner mehr von ihrem Innenleben zeigen würden, besonders im Bereich der Sexualität. Und trotzdem tun es viele nicht. Das mag an mangelnder Sprachfähigkeit, unterentwickelter Selbstwahrnehmung oder fehlendem Mut liegen. Oft hat es aber auch mit dem Klima in der Partnerschaft zu tun.
Weil die Sexualität ein so sensibler, verletzlicher und persönlicher Bereich ist, ist die Hürde für Selbstoffenbarung verständlicherweise besonders hoch. Wenn man auch nur im Ansatz befürchtet, beschämt, zurückgewiesen, belächelt oder abgelehnt zu werden, will man sich diesem Risiko nicht aussetzen und gibt sein Inneres nicht zu erkennen.
Deshalb haben wir alle zwei Aufgaben in diesem Bereich. Zum einen sollen wir uns und unser Innenleben immer wieder mutig zeigen, auch wenn es Überwindung kostet. Und zum anderen sollen wir zu einem Beziehungsklima beitragen, in dem sich unser Gegenüber so zu erkennen geben kann, wie er oder sie tatsächlich ist, ohne eine abwertende Reaktion von uns befürchten zu müssen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir alles gutheißen oder ausleben müssen, was uns unser Gegenüber offenbart. Aber es bedeutet, dass wir mit dem, was uns anvertraut wird, liebevoll und behutsam umgehen sollten, um es unserer Partnerin so leicht wie möglich zu machen, sich uns in ihrer Sexualität zu erkennen zu geben.