Laura und Nico machen gerade eine anstrengende Phase durch. Vor anderthalb Jahren hat sich Laura zusammen mit einer Freundin selbstständig gemacht. Das Geschäft läuft ausgezeichnet. Nico gönnt ihr den beruflichen Erfolg und möchte sie in dieser intensiven Zeit so gut wie möglich unterstützen. Schließlich hatte sie während seiner Assistenzarztzeit auch viel Verständnis für seine unregelmäßigen und langen Arbeitszeiten gezeigt.
Unter der Woche sehen sie sich selten. Nico muss morgens früh raus und abends hat Laura oft Kundentermine oder bleibt bis spät in die Nacht im Büro, um E-Mails abzuarbeiten. Bei allem Verständnis für diese Ausnahmesituation wünscht Nico sich wieder mehr gemeinsame Zeit. Deshalb hat er heute Morgen beim Abschied zu Laura gesagt, dass sie heute vielleicht mal wieder zusammen zu Abend essen könnten. «Ja, vielleicht, das wäre schön», hat sie noch geantwortet, bevor er die Tür hinter sich zugezogen hat.
Am Abend schreibt sie ihm dann, dass sie noch viel zu tun habe, es leider nicht zum Abendessen nach Hause schaffe und er nicht auf sie warten müsse. Während Nico lustlos in seinem Teller herumstochert, spürt er einen Groll in sich aufsteigen. Mit jeder vergehenden Stunde wächst sein Unmut über seine Situation und über Laura.
Als Laura endlich nach Hause kommt, fällt sein Empfang ziemlich kühl aus. Als sie ihn fragt, was los sei, bricht es aus ihm heraus: „Für dich zählt nur noch deine Arbeit. Unsere Beziehung ist dir egal.“ Für Laura kommt dieser Angriff aus heiterem Himmel. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass Nico ihr berufliches Durchstarten genauso unterstützt, wie sie seines mitgetragen hat.
Was ist hier eigentlich passiert? Nico wünscht sich mehr Zeit mit Laura, hat das jedoch nie deutlich ausgesprochen. So hat er sie auch heute nicht klar gefragt, ob sie mit ihm zu Abend essen möchte. Stattdessen hat er seinen Wunsch nur angedeutet und erwartet, dass seine Frau merkt, was Sache ist (es ist ja offensichtlich!). Aber sie hat es nicht gemerkt und er fühlt sich übergangen. Frustriert sucht er innerlich nach Situationen, die zeigen, wo das Problem liegt und was sie alles falsch macht.
In unserer Gesellschaft gilt es als erstrebenswert, nicht zu zimperlich zu sein, unangenehme Situationen auszuhalten und sich auch mal durchzubeißen. Man will nicht anspruchsvoll oder kompliziert sein. Die Kehrseite davon ist, dass es uns manchmal schwerfällt, uns selbst unsere Wünsche und Bedürfnisse einzugestehen, geschweige denn, sie in die Partnerschaft einzubringen.
Zu sagen, was wir wollen, erscheint uns oft egoistisch. Aber das Gegenteil ist der Fall: Egoistisch ist es, seine Wünsche nicht auszusprechen und sich damit auch nicht dem Risiko einer Zurückweisung auszusetzen und dann zu erwarten, dass der andere sie trotzdem erfüllt. In unserer Vorstellung müsste der andere unsere Wünsche erraten. Weil es ja klar ist. Weil doch jedes Kind weiß, dass … Und wenn er sie dann wider Erwarten nicht errät, wächst der Groll in uns, bis er sich irgendwann am nichtsahnenden Partner entlädt. Das ist egoistisch.
Weil es uns schwerfällt, zu unseren Bedürfnissen zu stehen, suchen wir zuerst ein Problem beim anderen, um unsere Bedürfnisse zu rechtfertigen. Statt zu sagen: „Ich möchte mehr Zeit mit dir verbringen“, sagen wir: „Du arbeitest zu viel, so geht unsere Beziehung den Bach runter“. Dieser Umweg führt zu Konflikten, weil der andere sich gegen die Vorwürfe verteidigen muss, anstatt auf unser dahinterliegendes Bedürfnis eingehen zu können.
Wir müssen nicht zuerst herausfinden, was mit unserer Partnerin falsch ist, um unsere Bedürfnisse äußern zu dürfen. Wenn wir lernen, unsere Wünsche auszusprechen, ohne zuerst ein Problem zu suchen, können wir viele unnötige Konflikte vermeiden.